Umzäunt und ein bisschen majestätisch wirkt das Nachbarschaftshaus zunächst auf wenige wie ein allen offen stehendes Haus. Bis heute löst es Überraschung bei den Besucher*innen aus, die zum ersten Mal hinein kommen. Sie staunen über die Vielfalt der Angebote, die Lebendigkeit, die engagierten Mitarbeiter*innen, die vielen Einzelprojekte, Initiativen, Aktivitäten und die repräsentativen Räume. Ahnten doch viele gar nicht, was sich hinter diesen Mauern alles verbirgt, gern wären sie schon eher gekommen. Nicht selten der Beginn einer langen, intensiven Zuneigung. Eingefangen vom Charme einer Welt der Begegnung und gewachsener Strukturen entwickeln viele ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Identifikation.
Erfährt man dann noch um die Geschichte des Hauses, was hier bereits alles erlebt wurde, beginnt man die Wände erzählen zu hören.
Wir sprechen vom „Geist des Hauses“.
Viel Spaß bei unserer kleinen Reise in die Vergangenheit:
Von den Anfängen
Das Haus war einmal Teil der Kaserne des Kaiser-Franz-Garde-Grenadier-Regiments No. 2. Dieser weitläufige Gebäudekomplex im Karree der Urban-, Baerwald-, Blücherstraße und Fontanepromenade war 1863–66 erbaut worden.
1913 begann dann der Bau des Gebäudes, welches später zum heutigen Nachbarschaftshaus wurde – ein einzeln stehendes repräsentatives Offizierskasino an der Urbanstraße. Hier sollten die Offiziere ein und aus gehen, hier zeigte man seine Macht und seine militärische Kraft.
Das Haus selber hatte allerdings nur eine sehr kurze militärische Geschichte, da dann der ersten Weltkrieg ausbrach. Jahre lang stand das Gebäude leer und verfiel zusehens.
1924 mietete die Berliner Liedertafel das Haus vom Finanzamt für Liegenschaften des Reichsfinanzministeriums als ihr Kulturhaus. Mit hohem Einsatz beseitigten die Mitglieder des Männerchors die baulichen Schäden und beschafften eine neue Einrichtung. Der 1884 gegründete Chor hatte zu jener Zeit 240 Mitglieder und ein großes eigenes Orchester. Im Saal wurde geprobt und dort fanden auch öffentliche Chorkonzerte statt.
Bis 1945 unterhielt die Liedertafel dieses Haus.
Nach dem Krieg
Am Kriegsende besetzten erst amerikanische und später sowjetische Militärs das Gebäude. Als diese nach rund 3 Wochen wieder abzogen, besetzte das Bezirksamt das Haus provisorisch als Krankenhaus – als Erweiterung des Krankenhaus Am Urban. Dringend wurden Orte gebraucht, an denen Patient*innen, vor allem Kriegsversehrte, untergebracht werden konnten.
1948 begann die Geschichte der Nachbarschaftsarbeit im Haus. Die Mennonit*innen, eine pazifistische protestantische Religionsgemeinschaft, die in Amerika zu dieser Zeit sehr groß war, schickten 120 erste Freiwillige zum Wiederaufbau nach Europa.
Lange Zeit wussten wir nur, dass unser Nachbarschaftshaus „irgendwie von amerikanischen Mennonit*innen gegründet wurde“.
Im November 2013 hielt eine Frau Namens Anne Buller einen Vortrag in ihrer Kirchengemeinde in Ohio und erzählte von der prägendsten Zeit ihres Lebens. Sie erzählte von der Gründung des Nachbarschaftshauses Urbanstraße. Ein Mann – Bill – fragte sie dort: „Was ist eigentlich aus dem Haus und der Arbeit geworden, die du und dein Mann damals begonnen habt?“ Anne antwortete: „Ich weiß es nicht, wir sind nie wieder nach Europa gekommen.“ Bill googelte und fand schnell das Nachbarschaftshaus Urbanstraße und berichtet „Anne – das ist immer noch ein Nachbarschaftshaus.“ So erreichte uns im Dezember 2013 eine Mail aus Amerika. Bill schrieb uns, dass er die Gründerin des Nachbarschaftshauses kennen würde. Diese war zu diesem Zeitpunkt bereits 88 Jahre alt.
Es entstand ein reger E-Mailkontakt. Anne hatet alle ihre Tagebücher und die Fotos aus dieser Zeit aufgehoben. Für uns ein großer Schatz, der dann Stück für Stück gehoben wurde. Nach und nach fügten sich einzelne Puzzleteile zusammen. Schließlich luden wir Anne ein, bei unserem Jubiläum im Jahr 2015 nach Berlin zu kommen. Im Februar 2015 schickte Anne Buller eine Mail, in der sie schrieb „Sie habe jetzt gebucht, sie komme mit 17 Amerikaner*innen – darunter ihre 3 Kinder mit Familien. Sie wolle für eine Woche nach Berlin kommen und bei unserem Jubiläumsfest sprechen.“ Und das tat sie dann auch.
Unter den 120 Mennonit*innen befand sich also auch das junge Ehepaar Anne und Harold Buller, welches den Auftrag bekam nach Kreuzberg zu reisen und dort ein Nachbarschaftshaus aufzubauen. Es war die Zeit der Blockade und das Ehepaar musste mit einem Rosinenbomber auf das Tempelhofer Feld eingeflogen werden. Mit einer Karte ausgestattet, gingen Anne und Harold durch Kreuzberg und suchten nach einem geeigneten Ort für ein Nachbarschaftshaus. Am zweiten Tag kamen sie in die Urbanstraße 21 und waren überzeugt: dieses Haus muss ein Nachbarschaftshaus werden.
Sie begannen mit Verhandlungen.
Das Nachbarschaftsheim Kreuzberg
Die Idee zweier junger amerikanischer Freiwilliger, aus einem Krankenhaus ein Nachbarschaftshaus zu mache, stieß auf keine offenen Ohren. Nach einigen Absagen, fanden sie endlich Gehör beim neuen Kreuzberger Bürgermeister Willy Kressmann. Es dauerte 3 Monate, bis sie die etwa 100 Patient*innen in andere Pflegeeinrichtungen unterbrachten. Nach und nach leerte sich das Haus und Anne und Harold begannen – gemeinsam mit anderen Freiwilligen – das Haus vorzubereiten.
Am 03. August 1949 wurde das Haus als Nachbarschaftsheim Kreuzberg feierlich eröffnet. Ab dann durfte auch die Liedertafel das Haus wieder mit ihrem Gesang füllen – und das tun sie auch heute jeden Donnerstag Abend noch.
Mit wenigen Mitteln wurde ganz viel bewegt. Es gab viele Kinder- und Freizeit-, Bildungs- und Kulturangebote. Es gab Englischkurse, Anne selber gab Nähkurse. Eine Bibliothek und eine kleine Lesestube wurden errichtet und vieles mehr. Das alles mit dem Gedanken, die Menschen in Kreuzberg nach dem Krieg darin zu unterstützen, wieder demokratisch zusammenzuleben und miteinander in Beziehung zu treten.
Ziel der Mennonit*innen war es, möglichst schnell das Haus an einen Verein in Kreuzberg weiterzugeben. Dieser Verein wurde bereits 1951 gegründet und hieß „Nachbarschaftsheim Kreuzberg“- jedoch hatte der Verein kein Geld, um das Haus und die darin stattfindenden Aktivitäten zu finanzieren. 1954 kam die Deutsche Klassenlotterie auf den Verein zu und bot an, das Haus und somit soziale Projekte ab 1955 zu finanzieren. Der Nachbarschaftsheim Kreuzberg e.V. entschied sich jedoch dagegen, mit Geldern aus Glücksspielen soziale Arbeit zu machen.
Daraufhin kam unser Verein – 1955 noch als „Nachbarschaftsheim Urbanstraße e.V.“ gegründet – ins Spiel und nahm die Gelder an.